Briefe an Nele: weibliche Stimme

Von: “Anton Fischer” <>

Datum: 18. September 2014 16:52:20 MESZ

An: “Nele Wulff” <>

Betreff: Re: weibliche Stimme

Liebe Nele,

Herr Hezar-Khani sagte mir eben, daß sein Computer kaputt ist und er Ihre Email nur zum Teil lesen konnte. Hinsichtlich der Lesung bittet er um drei, vier Tage Bedenkzeit. Meine Emails an Sie können sowohl in der Homepage, als auch in der Zeitung veröffentlicht werden. Auch diese Serie zu Literatur, Kultur und Stimmen würde ich interessant finden und bin damit einverstanden. Mit Nancy habe ich mich leider noch nicht beschäftigt.

In Frankreich ist die Stimme ausdruckskräftiger als in Deutschland. Der Grund liegt wohl darin, daß es die Stimme als sozusagen lautloses Substrat nicht gibt, sondern sie nur vernehmbar wird und sich ausdrückt als Reihe von Lauten, Nasallauten, Labiallauten, Explosivlauten, Dentallauten usw., auch mit einer bestimmten Sprechmelodie, dem Verschlucken von Buchstaben, wie im Dänischen. Das Nasale spielt im Französischen eine größere Rolle, das “th” im Englischen und Isländischen; darüber hinaus werden die Buchstaben in den Sprachen unterschiedlich ausgesprochen. Dazu kommen Unterschiede im Temperament, die geographisch und kulturell bedingt sind. So werden Chansons im Französischen mit einer anderen Verve und Rückhaltlosigkeit gesungen wie im deutschen Lied, wenn man sich z.B. Jacques Brel oder Edith Piaf vorstellt. Dabei kann vor allem die weibliche Stimme durch ihre übermäßige Betonung der Vokale, wie auch in der italienischen Oper beim Sopran, die Worte geradezu unkenntlich machen. Aber auch die Französin singt in den Chansons anders als der Franzose, der mehr vom rationalen ausgeht, während bei ihr alles aus dem Emotionalen kommt. Dazu kommen Unterschiede im Rhythmus der Verse, betonte und unbetonte Silben, inwiefern sich leichter Reime ergeben, was im Französischen eher gegeben ist, weil auch unterschiedlich geschriebene Versenden noch gleich ausgesprochen werden. Dazu kommt, daß das Ende von “ronde” – das “e” – im normalen Satz stumm bleibt, im Chanson aber als weiblicher Versausgang gesungen wird. Das beruht auf Übereinkunft, alle wissen davon. Im Französischen singen auch die Schauspieler mehr als bei uns: Jean Gabin war Tänzer, Chansonier und Schauspieler,  auch Charles Aznavour Musiker und Schauspieler. – Die Stimme ist im Französischen anders als in Deutschland, weil die Laute, die die Stimme erfüllen, eine andere Wärme, ein anderes Timbre haben.

 

Viele Grüße

Anton Fischer